Reisebericht Diyarbakir – die Situation der Kurden
Das Ziel unserer Reise war Eindrücke und Fakten zu sammeln, wie der Zustand in den türkischen Kurdengebieten ist, also was sich da wirklich abspielt. Dazu wollten wir Augenschein vor Ort nehmen und mit möglichst vielen Leuten aus Politik und der Zivilgesellschaft in Kontakt kommen. Das ist uns gelungen. Was wir gehört haben ist erschreckend. Viele ähnliche Aussagen haben wir immer und immer wieder gehört.
Sur wird zerstört
Die Oberbürgermeisterin und der Oberbürgermeister des Distrikts Diyarbakir – in den Kurdengebieten sind es immer Co-Präsidien aus Mann und Frau – schilderten uns eindrücklich, wie es keine Kommunikation zwischen den staatlichen Behörden gibt. Auf das Angebot, Differenzen und Probleme im Dialog zu lösen, wird nicht eingegangen. Die türkischen Behörden haben eine andere Idee von Staatsführung und Gesellschaft. Die Verweigerung von Dialog und enorme Repressionen werden als systematische Zerstörung der kurdischen Kultur und der pluralistischen Gesellschaft wahrgenommen. Ein Beleg dafür, den wir mit eigenen Augen besichtigen konnten, ist die schreckliche Zerstörung von Sur, der Innenstadt von Diyarbakir, wo vor kurzem noch 55‘000 Menschen lebten.
Wir sahen die Betonverschläge der abgeriegelten Quartiere, in die nicht einmal mehr die Stadtregierung Zutritt hat und hinter denen nur die Bulldozer zu hören sind. Wir sahen vom Dach eines zerstörten Hauses, welches ein alter Mann extra für uns geöffnet hatte, in das gesperrte Gebiet hinein und sahen die Lücken die bereits ins Quartier gerissen worden sind. Die Fakten belegen es: Gemäss Satellitenaufnahmen sind bereits 1258 Häuser und Kulturdenkmäler zerstört worden.
Wir gingen durch die kaum noch bevölkerten, engen Gassen von Quartieren, die wieder geöffnet sind, vorbei an Fassaden und Rollläden mit Einschusslöchern, die durch Salven, frontal und aus nächster Nähe abgefeuert, entstanden waren – nicht von Terroreinheiten, sondern von den Spezialeinheiten des obersten Sicherheitsrats aus Ankara. Wir trafen Menschen auf der Strasse, die uns gedankt haben, dass wir hier sind und schauen, was hier geschieht.
Demokratische Gesellschaft passt den staatlichen Behörden nicht
Es wird auf allen Ebenen gegen die kurdische Regionalverwaltungen vorgegangen. Gerade jetzt wurde die Zuteilung der Steuern gekürzt, damit die Kommunen ihre Leistungen nicht mehr erbringen können und damit die Wählerschaft verärgert werden soll.
Seit dem 3. August 2015 wurden in den Kurdengebieten 21 demokratisch gewählte BürgermeisterInnen verhaftet, 31 des Amts enthoben. Alle werden ersetzt durch regierungstreue Statthalter. Die Zahlen liegen der Anwaltskammer vor. Repression gibt es auch gegen die nationalen Abgeordneten: gegen 51 ParlamentarierInnen der kurdischnahen Partei HDP wurde die Immunität aufgehoben. Eine dieser Abgeordneten erklärte uns, dass sie eben die Anklageschrift bekommen habe, sie wurde in elf Punkten angeklagt. Wie geht man mit so etwas um? Mit Stolz und der Überzeugung, das Richtige zu tun und sich nicht unterkriegen zu lassen. Aber sie bitten um Solidarität aus Europa. Sie hoffen, dass nicht einfach ganz Europa zusieht, wie hier die Demokratie mit Füssen getreten wird.
Wir haben den Demokratische Gesellschaftskongress besucht, wo die Kommunalbehörden zusammen mit den NGOs demokratisch das zivile Leben organisieren und deren Co-PräsidentInnen bereits jahrelang im Gefängnis sassen; mit der Organisation Rojava, die Hilfsgüter an die Vertriebenen verteilen und dabei schikaniert werden in dem bei Kontrollen Behälter zur Kontrolle aufgeschlitzt werden und seit Anfang Juni 2016 die Spendenkonten gesperrt sind; wir waren im Flüchtlingslager Fidanlik, wo heute rund 1200 Yesidinnen leben – überall das Gleiche: es gibt keine Hilfe und Unterstützung durch den Staat, weder finanziell noch organisatorisch, sondern nur Schikanen.
Auch als wir mit der mesopotamischen Anwaltskammer diskutieren, die sich um die Enteigneten oder Verhafteten kümmern, oder mit dem Vertreter des Menschenrechtsvereins sprechen, der uns aufzeigt, dass heute immer wieder Zivilisten getötet werden und dass soeben drei prominente Männer, die sich für eine freie Presse einsetzen, verhaftet worden sind, es ist immer das Gleiche: die Repression ist allgegenwärtig.
Wunsch nach Dialog
Über ihre persönliche Situation verlieren unsere GesprächspartnerInnen nicht viele Worte, sie alle sind aber schwer besorgt, dass die Situation eskalieren könnte. Die permanente Polizei- und Militärpräsenz, der Ausnahmezustand, die Enteignungen, die permanente Gewaltausübung schüren die Eskalation. Alle verlangen deshalb das Gleiche: sie verlangen nur einen Dialog, um die Eskalationsspirale zu brechen. Aber dieser wird Ihnen von Ankara verweigert. Somit verhärtet sich die Tatsache, dass hier gegen ein Volk vorgegangen wird und gegen eine pluralistische Gesellschaft.
Wir haben nur einen kurzen Moment miterlebt. Wir wissen auch, dass in drei Tagen die ganze Dimension eines solchen Konflikts nicht erfasst werden kann. Aber die Faktenlage spricht eine klare Sprache:
Hier geschieht grosses Unrecht. Um die Eskalation zu verhindern und einen politischen Weg einzuschlagen, bleibt nicht mehr viel Zeit. Die Wiederaufnahme des Friedensdialogs ist notwendig und wird dringend gewünscht.
Europa muss hinschauend, es hat alles Interesse, dass es nicht zu einem Bürgerkrieg kommt, wie in Syrien. Ich möchte schliessen mit einem Zitat: „Wir brauchen keine Hilfe, wir haben keine Naturkatastrophe, wir brauchen Solidarität und Unterstützung im Friedensdialog.“