50 Jahre Schweizer Frauenstimmrecht und die starken Frauen aus St. Gallen

Hanna Sahlfeld-Singer, Margrit Bigler-Eggenberger, Kathrin Hilber, Ruth Dreifuss und Maria Pappa – fünf Sozialdemokratinnen als Pionierinnen in der St. Galler Politik. Eine Welt, die sich für die Schweizer Frauen erst vor 50 Jahre eröffnet hat. Am 7. Februar 1971 stimmten die Männer an der Urne dem nationalen Frauenstimmrecht zu. Davor waren mehrere Versuche an ihrem Widerstand gescheitert.

Es ist kaum zu glauben. Die Schweiz, die sich stets als eine der ältesten Demokratien bezeichnet, ist eines der letzten Länder, die ihre Bürgerinnen an den demokratischen Prozessen teilnehmen liess. Die ersten Länder, welche das Frauenstimmrecht einführten, waren die Cookinseln und Neuseeland. Dort durften die Frauen bereits 1893 mitentscheiden. Der Kampf der Schweizerinnen war lang. Unterstützt von Gewerkschaften und der SP wurde das Frauenstimmrecht in den Forderungskatalog des Landesstreiks 1918 aufgenommen. Erfolglos, denn es brauchte 40 Jahre, bis auf lokaler Ebene die ersten Frauen in der Schweiz mitbestimmen durften, und zwar in der Gemeinde Riehen und in Basel-Stadt.

Immerhin war ein Anfang gemacht und die Kantone Neuenburg, Waadt und Genf führten rund ein Jahr später das Frauenstimmrecht auf kantonaler Ebene ein. Ab 1968 kamen noch weitere Deutschschweizer Kantone hinzu. 1969 fand der legendäre Marsch nach Bern statt, den Emilie Lieberherr anführte, und bei dem 5000 Frauen den Bundesrat auf dem Bundesplatz auspfiffen, wegen seiner Untätigkeit. Diese Entschlossenheit und diese Wut waren so gross, dass nichts mehr dagegen gehalten werden konnte, wie das im Film „Die göttliche Ordnung“ von Petra Volpe so treffend dargestellt wird. Am 7. Februar 1971 nahmen die Männer das Frauenstimmrecht an der Urne an. Auf kantonaler Ebene folgten die restlichen Kantone rasch, nur die beiden Appenzell liessen sich weiter Zeit. Die Ausserrhoder stimmten dem Frauenstimmrecht an der Landsgemeinde 1989 zu, die Innerrhoder mussten durch das Bundesgericht gezwungen werden, es einzuführen. Damit wurde ein Verstoss gegen die Menschenrechte beendet, der sich doch noch bis 1991 halten konnte.

Mit der Einführung des Frauenstimmrechts konnten auch erstmals Frauen in politische Ämter gewählt werden.  Dabei spielten St. Gallerinnen eine wichtige Rolle. Bei den 1. richtigen demokratischen Nationalratswahlen 1971 wurden elf Nationalrätinnen gewählt. Gleich zwei davon kamen aus St. Gallen: Die junge 28-jährige Sozialdemokratin Hanna Sahlfeld-Singer und Hanny Thalmann von der CVP. Hanna Sahlfeld-Singer war bei ihrer Wahl Mutter und berufstätig. Ihren Beruf als evangelisch-reformierte Pfarrerin musste sie jedoch aufgeben, weil es Geistlichen nicht erlaubt war, ein politisches Amt inne zu haben. Die gesellschaftlichen Repressionen trafen Hanna Sahlfelds Familie hart. Ihr Mann, ebenfalls reformierter Pfarrer, fand aufgrund des politischen Engagements seiner Frau keine Arbeit mehr. Hanna Sahlfeld trat 1974 aus dem Nationalrat zurück. Die Familie wanderte nach Deutschland aus.

Beim Ständerat liessen sich St. Gallen Zeit: erst 1995 wurde mit Erika Forster aus der FDP eine Frau in dieses Amt gewählt. Und noch ein Jahr länger dauerte es, bis die ersten Frauen in die St. Galler Regierung einzogen: Die SP-Frau Kathrin Hilber und Rita Roos von der CVP. 1999 ein nächster Meilenstein: zum ersten Mal wurde eine Frau als Bundespräsidentin gewählt, die in St. Gallen geborene SP-Frau und Gewerkschafterin Ruth Dreifuss. Aber fast 50 Jahre brauchte es, bis im November 2020 die erste St. Galler Stadtpräsidentin, die SPlerin Maria Pappa gewählt wurde.

Mit dem Frauenstimmrecht wurden auch die Richterämter für Frauen zugänglich. Auch dort begann die Eroberung sofort, aber sie dauert immer noch an. 1972 wurde die St. Galler Sozialdemokratin Margrith Bigler-Eggenberger als erste Frau Ersatzrichterin am Bundesgericht und zwei Jahre später erste ordentliche Bundesrichterin. Sie war auch eine der ersten Dozentinnen an der HSG. Aber es mussten fast 50 Jahre vergehen, bis das Bundesgericht die erste Präsidentin erhielt, wieder eine St. Gallerin: Im Dezember 2020 wurde Martha Niquille (CVP) als erste Bundesgerichtspräsidentin gewählt.

Viele Frauen mussten sich erheben und gemeinsam gegen diese jahrzehntelange Verletzung der Menschenrechte ankämpfen. Sie erhielten auch Unterstützung von Männern, vor allem linken Männern. Heute gibt es gesellschaftlich und politisch noch viel zu tun, aber immer mehr Frauen sind nun auch an den Schalthebeln. Aber die Jahrhunderte dominierenden, geschlechterspezifischen Sicht- und Verhaltensweisen sind zäh und schwer aufbrechbar.  Die Pandemie zwingt uns, die Festivitäten zu diesem für die Schweiz und die Menschenrechte so wichtigen Jubiläum zu verschieben. Im Herbst 2021 wollen wir SP-Frauen eine Veranstaltung abhalten, mit Hanna Sahlfeld-Singer, die uns besuchen kommt und mit uns zusammen die 50 Jahre Frauenstimmrecht feiern wird. Ich hoffe, dass viele der Wegbegleiterinnen und viele neue aktive Frauen dabei sein werden