Rede zum 1. August 2023: 175 Jahre Bundesverfassung – ein Grund zum Feiern?
Grüezi liebe Ebnat-Kapplerinnen und Ebnat-Kappler, willkommen liebe Gäste
Ich freue mich sehr, heute bei Ihnen zu Gast zu sein. Ebnat-Kappel ist mir als Stadt St.Gallerin natürlich ein Begriff. Unser eigenwilliger Ringkanton führt einem fast automatisch durch fast alle Gemeinden, wenn man von Norden in den Süden will oder umgekehrt.
Und klar, wer sich für Politik interessiert, kennt die verschiedenen Politiker und Politikerinnen, die aus Ebnat-Kappel kommen oder sich hier von den Strapazen des Politisierens erholen.
Ich erinnere mich auch an meine Kindheit, als wir im Winter gerne zum Skifahren hierherkamen. Und dann die legendären Girlen-Skirennen, 1977 mit Heini Hemmi als Sieger vor 30‘000 Zuschauern. Seither hat sich einiges verändert. Allein aufgrund des Klimawandels wären die legendären Wettkämpfe am Girlen nicht mehr denkbar. Immerhin sorgen Sportler aus der Region wie Jan Scherrer (Half-Pipe) oder Beda Klee (Langlauf) auch heute noch für nationale Schneesport-Schlagzeilen.
Heute sind wir hier, um den Nationalfeiertag zu feiern. Unsere Gesellschaft ist immer wieder gefordert, auf Ereignisse zu reagieren. Das trifft gerade auf die letzten Jahre besonders zu. Zur Klimakrise ist die Covid-Pandemie dazugekommen und vor bald 1½ Jahren noch dieser Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, von dem niemand gedacht hat, dass es einen solchen Krieg in Europa je wieder geben könnte.
Umso mehr lohnt es sich heute am Nationalfeiertag einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Für einmal schauen wir nicht zurück auf das Jahr 1291, zu den 3 Eidgenossen und dem Rütlischwur, als gemäss der Legende der Kern gelegt wurde für den gegenseitigen Beistand im Falle eines kriegerischen Angriffs von aussen. Es wurde ein Bund geschlossen, der auf der Solidarität unter den 3 Gebieten Uri, Schwyz und Unterwalden basierte.
Heute möchte ich mit Ihnen auf das Jahr 1848 schauen, als die moderne Schweiz entstand. Vor 175 Jahren wurde die 1. Schweizer Bundesverfassung in Kraft gesetzt. Ihre Entstehung fasziniert mich immer wieder, denn der Gründung des modernen Bundesstaats ging nur wenige Monate vorher ein Bürgerkrieg voraus, bei dem sich die Kantone in 2 Lagern – dem katholisch-konservativen und dem reformiert-liberalen, bekriegten. 26 Tage dauerte dieser sogenannte Sonderbundskrieg, bei dem es um das Durchsetzen von völlig verschiedenen Weltanschauungen ging.
Nach diesem Bürgerkrieg, den die Reformiert-Liberalen gewannen, war allen klar, dass es rasch eine neue Form des Zusammenlebens brauchte und zwar auf der Grundlage einer gemeinsamen Verfassung. Sonst würde der Bund auseinanderbrechen.Für die Ausarbeitung der Bundesverfassung benötigten die Vertreter der Kantone nur gerade 51 Tage! Dies war nur möglich, weil die Grundlagen dazu schon viel früher geschaffen worden waren, nämlich mit den früheren Solidaritätsversprechen.
Mit der 1. Bundesverfassung wurde das Fundament gelegt für einen modernen Staat, für die moderne Schweiz. Allerdings war es keinesfalls so, dass die demokratischen Rechte für alle gültig waren. Nein, 1848 galten sie einzig für Männer mit christlichem Glauben.
Während nämlich die berühmte Kappler Malerin Anna Barbara Giezendanner – sie kennen sie wahrscheinlich eher als „s’Giezedanners Babeli“ – ihre über 100 berühmten Bauernmalereien erstellte, waren Frauen in der Schweiz nicht stimm- und wahlberechtigt. Dass dieser Zustand sich noch bis ins Jahr 1971 halten konnte, ist für mich auch heute noch unverständlich. 123 Jahre hatten einzig die Männer das Sagen in unserem sogenannt demokratischen Land.
Ich denke, wir sind uns alle einig: Eine Verfassung muss weiterentwickelt werden können. Viele wichtige und heute nicht mehr wegzudenkende Dinge wurden erst später aufgenommen, wie das Initiativrecht, eines der wichtigsten Rechte in der direkten Demokratie, das erst 1891 eingeführt wurde oder eben das Frauenstimmrecht 1972. Die Bundesverfassung, ist die Grundlage für unsere demokratische Gesellschaft, die stets ausgehandelt und weiterentwickelt werden muss. Es ist unsere Aufgabe als Bürger*innen dieses Landes, dies weiterhin zu tun.
Mit Respekt vor den unterschiedlichen Interessen und Anliegen der Menschen,
mit Rücksichtnahme auf die Gruppen, die weniger laut sind,
mit gegenseitigem Zuhören, wenn wir einander im ersten Moment auch überhaupt nicht verstehen können.
Für diese Diskussionen dienen auch unsere Volksabstimmungen. In keinem Land wird so häufig das Volk direkt zur Politik gefragt, wie bei uns in der Schweiz. In den 175 Jahren wurden 689 Volksabstimmungen durchgeführt. Eine unglaubliche Zahl!
Das zwingt uns immer wieder, damals wie heute, miteinander zu diskutieren und auch hitzigste Debatten über Inhalte zu führen, sei es beispielsweise über AHV, Stimmrecht, Mutterschaftsversicherung, Migration, Natur, Energie, Strassen, Armee oder Kuhhörner.
Aber Anpassungen müssen mit Respekt und Solidarität vorgenommen werden. Und auch die, die keine eigene Stimme haben, brauchen eine Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse.
Ich frage Sie zum Beispiel, ist es richtig, dass rund 25% der hier arbeitenden und steuerzahlenden Bevölkerung nicht stimmen- und wählen dürfen?
Sollen die Menschen, die heute beispielsweise bei der der Bürstenfabrik in Ebnat-Kappel oder bei der hoch technologisierten IST arbeiten und Teil dieses Dorfes sind und sich allenfalls in einem der 94 Vereine von Ebnat-Kappel engagieren, aber den Schweizerpass nicht haben, dieses Grundrecht der Mitbestimmung nicht erhalten? Wie könnte eine Lösung aussehen, die sie miteinbezieht? Ich denke es ist wichtig und richtig eine solche Debatte offen zu führen.
Die Verfassung umfasst auch Bestimmungen zum Umgang mit der Natur und Landschaft. Ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt.
So stellt sich die Frage, wer nimmt eigentlich die Fürsprache für die Natur und Landschaft wahr? Sie werden rasch zum Opfer unseres Lebensstiels oder von Einzelinteressen.
Aber sie sind wichtig für uns und prägen stark unser Heimatgefühl. Ihre Vielfalt macht die Schweiz aus.
Ich durfte das hier in ihrem schönen Toggenburg erfahren, als ich als Mitglied des Fonds Landschaft Schweiz unter kundiger Führung von Reto Zingg die charaktervolle Landschaft und aussergewöhnliche Flora auf den Bergen rund um Ebnat-Kappel besuchen durfte. Diese Naturwerte brauchen unsere Stimme, weil sie keine eigene haben. Sie brauchen unsere Unterstützung, unsere Solidarität.
Ich habe es vorher schon erwähnt, es ist notwendig, auch heute die Diskussionen über die Zukunft unserer Bundesverfassung zu führen. Ich lade Sie in diesem Sinne auch ein, den heutigen Tag zu nutzen um mit ihren Tischnachbar*Innen zu diskutieren, was in der Bundesverfassung zu verändern wäre, was aber auch wichtige Errungenschaft sind, die gerade auch in Zeiten von Staatsskepsis unbedingt beizubehalten sind.
Jetzt komme ich noch zur im Titel gestellten Frage: Sind 175 Jahre Bundesverfassung ein Grund zum Feiern?
Für mich ist die Antwort ganz klar ein JA! Es ist ein Grund zum Feiern, dass wir kontroverse Diskussionen in unserer Willensnation immer mit den Mitteln der Demokratie zu lösen versuchen, so sieht es die Verfassung vor.
Ja, unsere Verfassung gibt uns die notwendigen Instrumente dazu und es ist an uns, sie auch wahrzunehmen.
Darauf dürfen wir gerade auch heute am Nationalfeiertag stolz und gegenüber unseren Vorfahren dankbar sein.
Zurücklehnen dürfen wir uns aber nach dem Feiern nicht.
Denn es gibt Menschen in diesem Land, die nicht die gleichen Rechte haben wie die meisten von uns.
Es gibt Bereiche wie Natur, Landschaft, Klima, die keine eigene Stimme haben.
Wirtschaftliche oder gesellschaftliche Veränderungen erfordern immer wieder neue Solidaritätsvereinbarungen, für die immer wieder intensive Diskussionen notwendig sind.
Unsere Verfassung lebt nur dann, wenn Sie mithelfen, indem Sie sich an diesen Diskussionen, an Abstimmungen und Wahlen beteiligen. Und denken Sie daran: Es ist ein Privileg! Für das uns viele beneiden! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen 1. August mit vielen guten Gesprächen.